Rätsel der Weltwirtschaft

von Nadine Binsberger   *)

Je angestrengter wir unsere wirtschaftlichen Ziele verfolgen, desto weiter entfernen wir uns von ihnen. Je mehr Wohlstand wir erreichen wollen, desto mehr zerstören wir ihn. Je liberaler wir sein wollen, desto totalitärer werden wir. Das hat damit zu tun, dass die Prämissen, von denen wir ausgehen, 180° verkehrt sind.

GÜTERMANAGEMENT

Wirtschaft bedeutet Gütermanagement – von der Rohstoffgewinnung über den Transport und die Verarbeitung bis zur Produktion, dann zur Verteilung, dem Konsum und schliesslich zur Entsorgung bzw. zum Recycling. Jede Gesellschaft braucht und hat eine Wirtschaft, denn ohne Gütermanagement kann eine Gesellschaft nicht existieren.

Nun gibt es optimalere und weniger optimale Organisationsformen dieses Gütermanagements. Aktuell herrscht der sogenannte freie Konkurrenzmarkt vor, der angeblich über seine unsichtbare Hand den Homo Oeconomicus ganz von selbst glücklich und zufrieden macht. Das ganze wird als liberal bezeichnet und ist kombiniert mit einer Wachstumsnotwendigkeit.

HERRSCHENDE LEHRE

Die herrschende Lehre geht davon aus, dass über dieses System nur die nötigen (nachgefragten) Güter produziert und ausserdem effizient und optimal alloziiert werden. Wir alle finden das total logisch, denn wenn etwas nachgefragt wird, dann machen die Leute ihr Geld locker, was dem Unternehmertum zugute kommt, welches konkret dafür sorgt, dass der Bedarf tatsächlich gedeckt wird. Ausserdem passiere das ganze effizient (weil aus wirtschaftlichen Gründen ein minimaler Aufwand angestrebt wird) und die Güter fänden ihre optimale Destination, d.h. denjenigen Nutzer oder Verbraucher, der sie am meisten benötigt bzw. nachfragt (weil der Unternehmer diejenigen Kunden beliefert, die seinem Produkt am meisten Wert zuschreiben, d.h. am meisten Geld locker machen). Das Konkurrenzprinzip sorge ausserdem dafür, dass nur die besten Produkte sich auf dem Markt durchsetzen. Die schlechten Produkte seien nicht konkurrenzfähig und fallen somit aus dem Angebot und aus dem Produktionsprozess.

Hinzu kommt, dass Vollbeschäftigung als positiv und Arbeitslosigkeit als negativ betrachtet wird.

UTOPIE

Schön wär’s, wenn’s tatsächlich so funktionieren würde. Dann hätten wir nämlich nach vielen Jahrzehnten des freien Marktes das Paradies auf Erden – zumindest auf derjenigen Erdhälfte, die nicht zuerst noch den Kommunismus erdulden musste.

REALITÄT

Die Realität sieht aber ganz anders aus (falls ich unter “Realität” etwas falsches verstehen sollte, dann bitte ich um Aufklärung…):

– Homo Oeconomicus:

Den HO gibt es nicht. Er wurde spätestens bereits vor über 10 Jahren wissenschaftlich widerlegt (http://e-collection.ethbib.ethz.ch/eserv/eth:25582/eth-25582-01.pdf). Eine Wirtschaft weiterhin auf widerlegten Grundlagen aufzubauen, ist unwissenschaftlich und unverantwortlich. Falls ich unter “wissenschaftlich” und “Verantwortung” etwas falsches verstehen sollte, dann bitte ich um Aufklärung…

– optimale Güter-Allokation:

Die GA ist heute alles andere als optimal. Beispiel: es gibt Regionen auf dieser Welt, in denen die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ganz extrem hoch ist. Die Menschen dort schreien geradezu nach Nahrungsmitteln. Das Unternehmertum müsste in diesen Regionen angesichts dieser enormen Nachfrage sofort tätig werden – wenn nicht die lokalen Unternehmer, dann halt irgendwelche ausländischen. Aber die Unternehmer bewegen sich nicht. Warum? Weil hungernde Menschen kein Geld anbieten können. Ohne Geld wird keine Nachfrage befriedigt – auch wenn sie noch so stark und existentiell ist. Hingegen wenn ein superreicher Exzentriker sein Handy mit den seltensten Diamanten der Welt bestücken lassen will, dann gibt es sofort mehrere Unternehmer, die ihm diesen Wunsch gerne erfüllen – obwohl er bestimmt nicht sterben oder ein wesentlich minderwertigeres Leben führen würde ohne diese Diamanten. Ist das optimal? Falls ich unter “optimal” etwas Falsches verstehen sollte, dann bitte ich um Aufklärung…

– effiziente Güterallokation:

Die GA ist heute das Gegenteil von effizient. Z.B. werden Textilien in praktisch allen ihren Produktionsstadien in der ganzen Welt herumgefahren, -geflogen und -geschifft, bis sie endlich ihre endgültige Destination erreichen. Globale Lohn- und Kostenunterschiede für ein- und denselben Produktions- bzw. Arbeitsschritt führen dazu, dass permanent eine objektiv gesehen völlig ineffiziente Transportorgie stattfindet. Das gilt für immer mehr Produkte aus allen Bereichen. Diese “Effizienz” ist auch gerade jetzt in diesem Moment dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Ist das “effizient”? Falls ich unter “Effizienz” etwas Falsches verstehen sollte, dann bitte ich um Aufklärung…

– Konkurrenz:

Die Konkurrenz sorgt nicht für die Durchsetzung der besten sondern – im Gegenteil – der schlechtesten Produkte. Konkurrenz führt zu immer mehr Mogelei, denn verkaufen ist wichtiger, als den tatsächlichen Bedarf zu decken. Z.B. wieviele Nahrungsmittel werden verkauft, die nur den Anschein dessen machen, was sie sein sollten? Kaum ein Fruchtsaft besteht zu 100% aus Fruchtsaft oder zumindest zu einem wesentlichen Anteil. Wieviele elektrische und elektronische Geräte halten, was sie versprechen? Usw. etc.

– Wachstum:

Ja, Wachstum war wichtig, notwendig und sinnvoll, als noch Mangel und Entbehrung herrschten. Jedes Wachstum war ein Schritt näher am Wohlstand. Halt: natürlich nicht jedes Wachstum, aber der grösste Teil davon. Wachstum z.B. im Sinne eines Aufblasens von ineffizienten Vorgängen gab zwar auch Arbeitsplätze, aber war deswegen nicht per se Wohlstandsfördernd. Wachstum ist die permanente Vergrösserung unserer Güterkreisläufe bzw. deren Volumen. Wachstum anzustreben ist das Gegenteil von Effizienz anstreben: es ist die vorsätzliche Verschwendung. Effizient wäre, ohne Wachstum mehr Wohlstand zu erreichen oder mit einem Negativwachstum (Décroissance) gleichviel Wohlstand zu erhalten. Am effizientesten wäre es, durch Negativwachstum den Wohlstand zu steigern. Meiner Ansicht nach ist dies die realistischste Variante. Falls ich unter “Wachstum” etwas Falsches verstehen sollte, dann bitte ich um Aufklärung…

– Arbeitslosigkeit und Wohlstand:

Ökonomie kommt aus dem griechischen Oikos = Haushalt. Wenn ich in meinem Haushalt zu tun habe, dann habe ich Arbeit: Wäsche waschen, Geschirr spülen, staubsaugen, aufräumen, flicken, ersetzen, warten, kochen, putzen, reinigen, wischen, fegen, schrubben, umstellen, versorgen, abstauben, ordnen, …uff jetzt kommt mir gerade nichts mehr in den Sinn. Jedenfalls ist irgendwann alle anstehende Arbeit getan. Die eine oder andere Arbeit wird natürlich immer wieder aktuell, aber wenn ich mal durch alles durch bin, dann gibt’s mal Pause. Dann kann ich mich ins Fauteuil setzen und den perfekten Zustand geniessen. Das ist nichts schlechtes sondern schlicht und einfach das Ergebnis meiner Arbeit. Keine Arbeit zu haben bedeutet, dass alles getan ist, was getan sein sollte. Arbeitslosigkeit ist also ein Zeichen dafür, dass es uns gut geht. Absurd wäre es, wenn es uns schlecht ginge und gleichzeitig Arbeitslosigkeit herrschen würde. Denn wenn es uns schlecht geht, dann gibt es immer noch zu tun, dann gibt es Arbeit! Dass es uns schlecht geht, wenn wir keine Arbeit haben, d.h. wenn alle Arbeit getan ist, ist ein strukturelles Problem, nicht ein wirtschaftliches. Unsere Strukturen sind noch nicht reif für den Wohlstand, solange getane vollendete Arbeit und damit einhergehender gesamtgesellschaftlicher Wohlstand zu einem Einkommensstopp auf der individuellen Ebene und somit zu massenhaften Existenzkrisen führt. Wohlstand und Effizienz können nicht zu Vollbeschäftigung führen, im Gegenteil. Immer weniger Arbeit ist das Ziel und der Erfolg von Effizienz- und Wohlstandsstreben. Und immer weniger Arbeit geht einher mit immer mehr Freizeit, was einen zusätzlichen Wohlstandssprung bedeutet. Wohlstand und ein Maximum an Freizeit – was wollen wir mehr? Freie Lebenszeit ist das wertvollste was wir haben, denn wir leben immerhin nur einmal. Falls ich unter “Arbeitslosigkeit” und/oder “Wohlstand” etwas Falsches verstehe, dann bitte ich um Aufklärung.

FAZIT

Wir müssen dringendst unsere Ökonomie auf grundlegend neue Prämissen stellen. Je länger wir weiterfahren wie bisher, desto mehr entfernen wir uns von unseren eigenen Zielen.

DIREKTDEMOKRATISCHER LIBERALISMUS

Es darf jedoch nicht sein, dass wir uns von liberalen Grundideen abwenden und zu einer diktatorischen, zentralistischen Planwirtschaft übergehen. Der Liberalismus muss jedoch gänzlich neu gedacht werden. Liberal sollte bedeuten, dass alle Wirtschaftsakteure (Unternehmer, Arbeiter, Konsumenten, Staat) sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und sich gemeinsam um das Wohl aller kümmern. Liberal sollte beinhalten, dass die Menschen sich in der Ökonomie frei bewegen können. D.h. frei von staatlichen Fussfesseln, aber auch frei von vermeintlichen Sachzwängen (z.B. too big to fail oder “Es geht nicht ohne Tiefseebohrungen”) und frei vom sog. “ökonomischen” Druck. Denn der blutrünstige, ruinöse Konkurrenzkampf auf den Märkten ist nicht liberal sondern eine perfide Form von Totalitarismus: das Recht des Stärkeren ist keine liberale Maxime sondern eine totalitäre. Faustrecht hat mit Freiheit nichts zu tun, höchstens mit der Freiheit eines einzigen, nämlich des Stärkeren. Deshalb ist der wahre Liberalismus nicht im völlig freien, deregulierten Markt zu finden, sondern in der zivilisierten, direktdemokratischen Auseinandersetzung zwischen allen ökonomischen Interessen. Nur diese hilft, sowohl das Faustrecht-Chaos als auch den Totalitarismus zu vermeiden.

*) Nadine Binsberger ist ein Pseudonym. Sie hat den obigen Artikel auf einem Internetblog veröffentlicht. Ich zeige hier den unveränderten Text mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis.

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